Eine gute Theateraufführung ist ein einmaliges Erlebnis in unserer immer digitaler und schnellebiger werdenden Welt. Eine wahre Erholung von den immer hektischer werdenden Bildschnitten in Kino und Fernsehen. Die Zuschauer sind live dabei, wenn auf analoge, authentische Art und Weise Geschichten erzählt werden. Noch schöner ist es, wenn es Geschichten mit Tiefgang sind. Geschichten, die bewegend und geschichtlich hinterlegt sind. Einfach Geschichten über Menschen und ihre Schicksale.
Schürzen und jeden Tag dreimal Ribel
Ernsthaft und unterhaltsam
«Bis dä Fade riisst» ist ein solches Theaterstück. Ernsthaft und trotzdem unterhaltsam und an den richtigen Stellen komisch. Basierend auf dem Buch «Schürzennäherinnen»der bekannten Rheintaler Autorin Jolanda Spirig hat der Dramaturg Paul Steinmann ein wunderbares Werk geschaffen, das am Samstagabend im Diogenestheater seine Weltpremiere feierte.
Nachdem alle sechs geplanten Vorführungen bereits beinahe ausverkauft sind, haben die Diogenes-Verantwortlichen die Generalprobe am Freitagabend zur «Vorpremiere» hochgestuft, die ebenfalls ausverkauft war. Zu Recht. Denn was das Diogenes-Ensemble in seiner Eigenproduktion geboten hat, verdient sich das Prädikat «sehr wertvoll».
Geld für die Familien verdienen
Kurz die Geschichte der Handlung. Zwischen 1946 und 1966 betrieb ein St.Galler Modehaus im Rheintal eine kleine Schürzennäherei. Eine Journalistin trifft mit drei älteren Frauen zusammen, die damals nach ihrer Schulzeit als Näherinnen in diesem «Büdeli» etwas Geld für ihre Familien verdienten. Die von diesen erzählten, teils heiteren, teils besinnlichen oder sogar traurigen Geschichten, bringen die Frauen in jene Zeit zurück, in der sie jung waren, Schürzen nähten, miteinander sangen, erste Liebesbanden knüpften und Zukunftspläne schmiedeten.
Geschickt hat Regisseurin Kristin Ludin aus der kleinen Bühne des Diogenes mit einfachen Mitteln mehrere Auftrittsorte gestaltet, an denen die einzelnen Erinnerungsszenen gespielt werden. So natürlich das «Büdeli» mit seinen Nähmaschinen und den fleissigen Näherinnen. Dazu das Café, in dem sich die Frauen mit der Journalistin unterhalten. Ein Gasthaus, wo die Männer bei Bier und Saft über Gott und die Welt philosophieren. Und das Wohnzimmer zuhause bei Näherin Gisela und ihrem Vater. Ja, sogar die Brüstung eines Fensters des Saales und die Treppenzugänge beidseits der Bestuhlung wurden in die Inszenierung eingebaut.
Immer wieder Ribel
Der Zuschauer wird mit Geschichten und Erlebnissen vertraut gemacht, die aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wuchsen. Einer Zeit, in der die Menschen auf beiden Seiten des Rheintals noch in Armut lebten. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass es die Näherinnen es leid seien, morgens, mittags und abends immer nur Ribel zu essen. «Ribel, Ribel, Ribel.»
Diese Zeit aus einer Welt, die noch gar nicht so lange her ist, war geprägt durch Kinderarbeit, Marienlieder, Armut und Autoritätsgläubigkeit. So handelt eine Szene des Stücks auch von ennet des Rheins. Davon, dass nach dem zweiten Weltkrieg Vorarlberg durch die Franzosen und ihre marokkanischen Soldaten, die auch die Grenze bewachten, besetzt war.
Einheimische und Auswärtige
Im Stück wie auch bei den jungen Schürzennäherinnen sind auch «die Männer» immer wieder ein Thema. Sowohl die Einheimischen aus dem Dorf als auch die «Auswärtigen». Denn es war die Zeit der grossen Melioration im St.Galler Rheintal, der Trockenlegung der Landwirtschaftsgebiete. Als viele Graubündner und Walliser als «Gastarbeiter» im Riet schufteten, um Gräben auszuheben und Kanalrohre zu verlegen.
So will auch der Vater von Gisela, einer der Näherinnen, nichts davon wissen, dass sie sich in Gian, einen Arbeiter aus dem Bündnerland verliebt. Denn schliesslich ist Gisela das letzte seiner Kinder, das noch auf seinem Hof verblieben ist, und ihm den Haushalt macht. Ob die Liebe siegt und Gisela im Graubündischen glücklich wird, oder weiter Näherin im «Büdeli» bleibt, sei an dieser Stelle nicht verraten, denn schliesslich sollen auch die weiteren Aufführungen von «Bis dä Fade riisst» ihre Geheimnisse behalten.
Grossartige Schauspielleistungen und Stimmen
Es wäre müssig, eine der Darstellerinnen oder einen Darsteller ob seiner Leistung hervorzuheben. Das gesamte Ensemble spielte authentisch, auf den Punkt und flüssig durch das Stück. Und mit grossartigen Stimmen, denn es wurden von den Näherinnen und ihren Mitstreitern auch einige Lieder gesungen. Perfekt in die Dramaturgie eingepasst.
„Bis dä Fade riisst“ – Theaterstück
Regie: Kristin Ludin
Autor: Paul Steinmann nach einem Buch von Jolanda Spirig
Darsteller: Alois Ruch, Anja Venter, Annika Künzler, Björn Wiget, Clarissa Nussbaumer, Claudia Ehrenzeller, Corine Hermann-Weder, Dario Cantieni, Jael Rothen, Karin Kehl, Kathrin Hüsler, Petra Hoppe, Ulrike Jäger.
Die weiteren Aufführungsdaten finden Sie hier.